METROPOLEN TANGO
von Mathias Greffrath ("Die Zeit" "Süddeutsche Zeitung")
Ein Mann und eine Frau. Sie tasten einander ab aus der Ferne, sie fixieren, erkunden sich mit Blicken, die sich sehnen, fürchten, behaupten. Lauernd umkreisen sie sich, zwischen ihnen baut sich ein Raum auf, in dem es nur noch sie gibt.
Dann setzt die Musik ein. Der Tango beginnt, die Zeit bleibt stehen. Und ein rasendes Spiel beginnt, beherrscht, kalkuliert, perfekt. Mit langen Schritten messen die beiden den Raum aus, den sie einander gewähren, ein Fuß sucht den anderen. Die Richtung wechselt, die Tanzenden stürzen ineinander, ihr Zusammenprall findet Ausweg in rasenden Pirouetten. Dann erstarren sie in vibrierender Bewegungslosigkeit und der Augenblick dehnt sich bis ins Unendliche.
Zwei Körper ertasten einander, stoßen sich ab, ziehen sich an, bis die Luft zwischen ihnen mitspielt. Vier Hände greifen nach dem Willen des anderen, vier Beine umkreisen sich, vier Füße suchen Widerstand, zwei Seelen erkunden sich, und die Regel heißt: Tango. Tango àla Stravaganza: Verschmelzung und Selbstbehauptung, Abneigung und Sucht nach Vereinigung. Sie fliegen aufeinander zu, ergreifen sich in verwegener Eroberungslust und gehören zusammen für die Ewigkeit einer Synkope.
Dieser Tango ist der Kampf zweier starker Willen, oft an den Grenzen zur Lust am Zerstören, Besetzen, Unterwerfen. Der Atem stockt, für ein Intervall zeigt sich der tödliche Ernst des Begehrens. In der rohen Aneignungslust scheint kurz die animalische Vorgeschichte der Erotik auf, die Kälte der Enttäuschung, das Rasen der Wut. Aber der Schrecken hält nicht an, denn sofort zeigen sie und wissen wir, dies ist ein altes Spiel um die Maskeraden der verletzlichen Gefühle. Im kleinen Winken der Hand, dem unmerklichen Drehen des Kinns, in der ironischen Wiederholung abgenutzter Gesten, in der grotesken Übertreibung verspielter Duelle, im knappen Zitat des Klischees tanzen sie Bruchstücke einer Geschichte der Erotik.
Stravaganza, das ist Metropolen-Tango in artistischer Vollkommenheit. Kein Hauch von Wehmut nach abgelebten Epochen, keine naiven Wiederbelebungsversuche der abgenutzten Posen, auch wenn die Requisiten stimmen: Das rote Kleid, die Nadelstreifen, der grell geschminkte Mund, die weißgedeckten Schuhe. Hier wird nicht Rolle gespielt, die von Macho und Chica, die von Führer und folgsamer Biegsamkeit, hier wird mit Rollen gespielt. Hier ist niemand maskiert, hier wird mit Masken gespielt.
Dieser Tango spielt heute. Ein riskantes Spiel, in dem sich zwei Körper, zwei Seelen, zwei Menschen einander so offen zeigen, doch hierdurch erfinden sie etwas Neues, etwas Unerhörtes:
Die Möglichkeit eines Daseins jenseits von Beherrschung und Unterwerfung, die Lust an der Anziehung ohne Verschmelzung, einer Trennung ohne Zerstörung, die Wirklichkeit verwegener Frauen und
sanfter Männer und im schnellen Wechsel das Gegenteil, das Chaos der Begierden, knapp gebändigt von der Lust an der Form. Im wirbelnden Tanz erkunden sie alle diese Möglichkeiten, und am Ende ist
es die Lust an der Persiflage der durchschauten Pose, die das Scheitern entschärft. Das ist das gefährliche Spiel an den Grenzen der Freiheit, ein Spiel ohne Spielmacher und ohne Sieg, ein Spiel,
das seine Regeln ständig neu erfinden muss, ein Spiel um den Wunsch, der tausend Mal enttäuscht wurde und doch nicht stirbt.